1. Mai 1913

Im Jahr 1913 gerieten die reaktionären Verhältnisse im Land Braunschweig immer mehr in Widerspruch zu den sozialen und politischen Forderungen der Arbeiterbewegung. Gerade der 1. Mai zeigt hier deutlich, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse sich zuspitzten. Wir zitieren  aus einem Buch über diese Zeit:

„An den Vormittagsveranstaltungen der Braunschweiger Maifeiern im Pawelschen Holz außerhalb der Stadt nahmen meist ca. 5000 Menschen teil, wobei der Abmarsch aus der Stadt ebenso wie die Rückkehr oft wie eine große, nicht genehmigte Demonstration gestaltet wurde. Die Aussperrung von 1911 (1816 Betroffene, 1089 Metallarbeiter) zeigte das verschärfte soziale Klima auch in Braunschweig an, während das Zusammenziehen der Polizei und die Sonderbewachung des Land­tags und des Wohnsitzes des Staatsministers 1912 die politische Krise offenbarten. 1913 wurde die 4000 Köpfe (siehe Anmerkung JS unten) zählende „Marschkolonne“, die morgens zum Olper Waldhaus hinauszog, sogar von „bis an die Zähne bewaffneten Polizisten“ begleitet, während der demonstrative Rückmarsch bzw. ein Nachmittagsfestzug „wegen drohender Umsturzgefahr“ verweigert wurde. Wenn es der Sozialdemokratie gelang, an besonders exponierten Stellen rote Fahnen anzubringen (die die Polizei prompt wieder einholte), wurde dies in der Presse ebenso vermerkt wie im Polizeibericht des stadt­bekannten Polizeioberwachtmeisters und Leiters der Politischen Abteilung Schulze II. Man trug das demonstrative Selbstbewußtsein derjenigen zur Schau, die von der Gerechtigkeit ihrer Sache überzeugt waren, die rechtliche und politische Gleichheit aller Bürger, auch des Arbei­ters, durchsetzen zu wollen. Das obrigkeitliche Mißverstehen dieses Rufes nach Reform als Ruf nach Revolution konnte nicht sinnfälliger und öffentlichkeitswirksamer zur Schau gestellt werden als durch die polizeiliche Begleitung der stadtaus- und stadteinwärts ziehenden Sozialdemokraten mittels demonstrativ bewaffneter Polizeibeamten, durch die Unterstellung der Umsturzgefahr oder durch die strafrechtliche Verfolgung des Rufes: „Hoch das gleiche Wahlrecht!“ Die sich hier offenbarende Unverhältnismäßigkeit der Mittel mußte dazu führen, daß die Umsturzängste der Obrigkeit der Lächerlichkeit preisgegeben und der gesetzmäßige Schutz der Ordnung als Schutz einer Unrechtsordnung erschien. Der demonstrative Abmarsch von 4000—5000 Sozialdemo­kraten vom Amalien- oder vom Schützenplatz zur Waldgaststätte im Pawelschen Holz, wo Mor­genimbiß, Frühschoppen und Kinderbelustigung stattfanden, und die ebenso demonstrative Rück­kehr zu den „Gambrinushallen“ wurde geduldet, die politische Demonstration auf dem Hagen-markt in der Innenstadt aber wegen angeblicher „Umsturzgefahr“ verweigert. Die partielle Rechts­verletzung bei der Durchsetzung des „Rechts auf die Straße“ wurde in Braunschweig allmählich zur Norm, was die Bereitschaft zur Anwendung außerparlamentarischer Mittel in den Wahlrechtskämpfen erhöhen mußte.“

Aus: Friedhelm Boll, Massenbewegungen in Niedersachsen 1906-1920, Bonn, 1981

Anmerkungen:

  • Die Anzahl der Teilnehmer muss nach dem Bericht im „Volksfreund“ wesentlich größer (8-10.000) gewesen sein (s. Bericht über den 1. Mai Link u.).
  • Die Veranstaltungen am 1. Mai konnten oftmals nur stattfinden, wenn die Menschen an diesem Tag streikten. Die Betriebe bekämpften diese Streiks durch Aussperrung.
    Der 1. Mai 1913 war allerdings ein Feiertag.
  • Demonstrationen waren grundsätzlich verboten. Ein „Abmarsch“ aus der Stadt hatte dann oftmals den Charakter einer Demonstration. Seit spätestens 1910 nahm man sich das Recht.
  • Die Mehrheit der Sozialdemokraten in Braunschweig war 1913 für ihre „radikalen“ Ansichten bekannt.
  • Ein verschärftes Drei-Klassen-Wahlrecht führte dazu, dass es in Braunschweig bis 1918 keinen Vertreter der SPD im Landtag gab.
  • Bei den Reichstagswahlen 1912 errang die SPD in der Stadt Braunschweig 61% der Stimmen. Hier gab es kein Drei-Klassen-Wahlrecht. Wählen konnten Männer ab 25 Jahren.

weiter zu: Der 1. Mai 1913 in der Zeitung „Volksfreund“